Wer entscheidet – Fachabteilung oder Informatik?

24. Juli 2014 um 10.50 Uhr
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Architektur im Bau

Wer entscheidet über Business Applikationen – Fachabteilung oder Informatik?

Fachabteilungen wie Finanzen oder Personal «rufen» nach Informatiklösungen, welche sie von administrativer Arbeit entlasten und ihre Prozesse beschleunigen. Die Informatik soll sich um diese Anforderungen kümmern. Sie bedient sich dabei der folgenden Lösungsansätze:

  • «make» – Applikationen werden selbst entwickelt
  • «buy» – Applikationen werden beschafft
  • «bake» – Applikationen werden kombiniert, integriert oder weiterentwickelt

Die Evaluation und Beschaffung von Informatiklösungen geschieht meist in Zusammenarbeit von Fach- und Informatikabteilung. Nach der klassischen Rollenverteilung stellt die Fachabteilung einen funktionalen Anforderungskatalog auf, die Informatikabteilung ergänzt mit Anforderungen an Systemarchitektur, Wartung und Betrieb. So ist sichergestellt, dass auch Fragen der Informatiksicherhei tund Kompatibilität mit der vorhandenen Infrastruktur berücksichtigt werden. Weitere Aspekte, welche von Informatikseite eingebracht werden, sind das im Hause vorhandene Technologie-Know-How und bestehende Verträge, beispielsweise vorhandene Lizenzen.

Doch das Informatikumfeld ist im letzten Jahrzehnt anspruchsvoller geworden: Insel-Lösungen genügen nicht mehr, um die Anforderungen an die Prozessunterstützung abzudecken. Und selbst integrierte ERP-Systeme wie SAP sind komplexer geworden und müssen im betrieblichen Umfeld mit zusätzlichen Funktionen und Systemkomponenten ergänzt werden. Gefordert wird heute eine Prozess- und Systemintegration über verschiedene Anwendungen hinweg: Workflows, Portale, Dokumentenarchivierung, Office-Integration, mobile Anwendungen.

In diesem komplexen Umfeld sind Organisationen oft überfordert mit der Evaluation von neuen Informatiklösungen. Wie passt eine neue Applikation ins bestehende Umfeld? Wo sollen die Systemgrenzen gezogen werden? Welche Schnittstellen braucht es? Welche Prozessintegration ist sinnvoll? Wie passen Infrastrukturkomponenten wie z.B. digitale Archive dazu?

Haben sich Informatikabteilungen von den Applikationen «verabschiedet»?
Erschwerend kommt dazu, dass sich viele Informatikabteilungen von der Lösungsfindung und Evaluation von Fachapplikationen «verabschiedet» haben. Es hat sich als schwierig erwiesen, mit den Fachanforderungen und Geschäftsprozessen mitzuhalten und dem vorgelegten Tempo wechselnder Business-Anforderungen gerecht zu werden. Also zog man sich zurück auf die System-Infrastruktur, mit dem Ziel ein solides technisches Fundament zu schaffen. Nun aber tauchen Fachabteilungen mit komplexen Projekten auf und fordern Systemintegration. Dies ist nicht nur eine Herausforderung für die Informatikabteilung, sondern eine Führungsaufgabe auf der höchsten Ebene: über die beteiligten Fachabteilungen und die Informatik hinweg.

Systemarchitektur ist «Out»
Fachabteilungen gelten oft als ungeduldig, wenn es um die Beschaffung und Implementierung neuer Lösungen geht. Aber viele können darauf verweisen, dass ihre Anforderungen und Projektideen schon sehr lange pendent sind und durch Infrastrukturfragen, Ressourcen-Engpässe der Informatik oder fehlende Budgetmittel aufgeschoben wurden.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht mehr opportun, wenn die Informatikabteilung beispielsweise eine bestimmte Datenbank vorschreibt und damit die applikatorische Wunschlösung der Fachabteilung ausbremst, weil diese z.B. „nur auf MS-SQL Server läuft“. Von grösseren Informatikabteilungen wird heute erwartet, dass sie – im Umfeld von Geschäftsapplikationen – für alle gängigen Datenbanksysteme einen Betriebsumgebung bereitstellen können. Neuere Servicemodelle wie Outtasking, Outsourcing oder Cloud-Lösungen verschieben hier ohnehin die Grenzen des Möglichen und Sinnvollen. Kurzum: es genügt heute nicht mehr, Anforderungen an die «Systemarchitektur» zu definieren – dieser Ansatz greift zu kurz.

 Applikationsarchitektur ist «In»
Unter einer Applikationsarchitektur verstehen wir ein Gesamtbild der beteiligten Anwendungen und die Integration deren Prozesse, Organisationsstrukturen und Werteflüsse. Eine integrierte ERP-Lösung stellt beispielsweise die Integration von Lohnverarbeitung, Finanzbuchhaltung und Controlling sicher. Mit etwas Zusatzarbeit («bake» – Kombination von Standardlösungen und Eigenentwicklung) lassen sich so auch anspruchsvolle integrative Themen wie die Zeit- und Leistungserfassung oder Personalkostenplanung abdecken. Richtig anspruchsvoll wird es aber, wenn branchenspezifische Lösungen integriert werden müssen, wie beispielsweise Schalterapplikationen, Anwendungen aus dem Bau- und Immobilienbereich oder dem Gesundheitswesen.

Im Bereich der öffentlichen Verwaltung ist dies nicht die Ausnahme, sondern die Regel: Kantone, Städte, Hochschulen sind «Konzerne» mit einem vielfältigen Tätigkeitsgebiet. Sie betreiben eine Vielzahl von Applikationen, welche mit der zentralen Infrastruktur für Finanzen, Personal, Prozessteuerung und Dokumentenagement integriert werden müssen.

Fazit – es braucht eine Applikationsarchitektur
Ein rein technischer Blickwinkel der «Systemarchitektur»genügt nicht mehr. Gefragt sind Teams und Projektorganisationen, welche komplexe Prozesse und Applikationsumgebungen aus Business-Sicht gestalten können. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Applikationsarchitektur und der Abgrenzung der einzelnen Software-Pakete zu. Dies ist kreative Arbeit, welche interdisziplinär im Team erbracht werden muss. Wichtige Faktoren dabei sind:

  • die Wahrnehmung der übergreifenden Führungsverantwortung durch das Management
  • Aufsetzen einer adäquaten Projektorganisation und genügend Zeit für die Erarbeitung der Grundlagen
  • ein offener Blick nach aussen (Was haben andere gemacht? Gibt es Referenzinstallationen aus der Branche?)
  • ein erfahrenes Projektteam, welches die Business-Anforderungen und den Markt kennt

Portrait RFu 120x120Roland Füllemann, Chefredaktor von referenzportal.ch, hat 20 Jahre Erfahrung mit Informatikprojekten im ERP-Umfeld. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Projektinitialisierung, Ausschreibungen für die öffentliche Verwaltung und Projektmanagement. Er ist Mitglied der Alumni Wirtschaftsinformatik Universität Zürich und nebenberuflich Dozent für Informatik an der HWZ Hochschule für Wirtschaft, Zürich.

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